Vorwort
„Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“: Immer schon hat die Kirche in diesem Satz einen klaren Auftrag gehört. Christus, der sich als Weltenrichter am Ende aller Zeiten verwechselbar macht mit den Hungernden, Kranken, Gefangenen und Fremden, ruft uns an deren Seite.
Als im Herbst 2015 in großer Zahl und binnen kurzer Frist Menschen in unser Land kamen, die Schutz vor Krieg und Verfolgung und neue Lebensperspektiven suchten, fragte auch die Kirche zuallererst danach, was handfest zu tun sei. Gemeinden und Kirchenkreise, Ämter und Werke und vor allem zahlreiche Ehrenamtliche boten – und bieten – konkrete Hilfe an: Vom Obdach über den Sprachkurs, die Kleiderspende, die Hilfe bei Behördengängen bis zum Kirchenasyl.
Mit der Zeit aber wurden – und blieben – in Gesellschaft und Kirche tiefere Fragen und neue Herausforderungen wach. Grundsätzliche Sorgen meldeten sich, vernachlässigte Probleme traten zutage, Konflikte eskalierten teilweise zu offener Gewalt.
„Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“: Der biblische Satz regt dazu an, im Fremden mehr zu sehen als lediglich den Bedürftigen, der Hilfe braucht.
Fremde sind Menschen mit anderer Kultur, mit anderer Religion, mit anderer Sprache aus einem anderen politischen Kontext. Das löst manche Sorge und manche Befremdung aus, die nicht überspielt oder kleingeredet werden dürfen.
Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten sind Menschen, die „Ich“ sagen; die ihre Geschichte haben, von ihren Sorgen und Hoffnungen erzählen können, selber mitreden und aktiv sind. Sie wollen nicht auf Dauer Objekte von Mitleid und Zuneigung, von Skepsis oder Angst bleiben.
„Ihr habt mich aufgenommen“: Viel Bereitschaft zur Veränderung ist nötig, damit solches Aufnehmen gelingen kann. Viel Offenheit braucht es, damit wirkliches Ankommen und echtes Miteinander möglich werden. Bei denen, die kommen. Und bei denen, die da sind.
Dass in den Herausforderungen der Fremdheit Christus selbst begegnet, ist leise Ahnung, kräftige Provokation und tiefe Verheißung zugleich.
Es gilt, besonders aufmerksam hinzusehen und hinzuhören, klar die Fragen und Fakten zu benennen, Position zu beziehen und Ratlosigkeit auszuhalten. Und: Es verbietet sich, Fremdheit von vornherein als Bedrohung abzuwehren und Migration und Flucht ausschließlich als Problem zu verstehen.
Im Fremden beschenkt Christus als Herr der Kirche die Kirche mit sich selbst.
Diese leise Ahnung, diese kräftige Provokation, diese tiefe Verheißung ist auch in der Evangelischen Kirche von Westfalen angekommen. An vielen Orten und auf vielerlei Weise ist sie hier bei uns zu überraschenden und beglückenden Erfahrungen geworden.
Dies stimmt dankbar und hoffnungsvoll. Es lässt neugierig fragen, was Geflüchtete mitbringen und brauchen, was im Blick auf Flucht und Migration dem Frieden dient, was das Miteinander stärkt und die Würde aller achtet. Es lässt staunen über die vielen Möglichkeiten der Kirche, sich selbst zu verändern und zu öffnen, um ihrem fremden Herrn neu zu begegnen.
Die Hauptvorlage lädt ein zum Nachdenken und Nachfragen, zu Ergänzung und Kritik, zu respektvollem Streit und zu überraschenden Entdeckungen.
Ich danke allen Verantwortlichen für ihre Mühe, Sorgfalt und Kreativität, die in die Erstellung der Hauptvorlage geflossen sind. Allen, die sich mit der Hauptvorlage beschäftigen, mitdenken, mitreden und mitfragen, wünsche ich Gottes Segen.
Annette Kurschus
Präses